Gebäudehülle 2/2020

30 gebäudehülle 02.20 fassade fassade textilfassade Textilfassaden für mehr Klimaschutz seit drei jahren beschäftigen sich Jan Se- rode und Dr. Andreas Koch an der RWTH Aachen unter Berücksichtigung von Um- weltaspekten mit der Frage, wo technische Textilien im Bauwesen angewendet werden können. Inwiefern textile Gebäudehüllen in Zeiten des Klimawandels von Vorteil sein können und welche Potenziale sich hinter Textilbeton verbergen, erklären die beiden Architekturexperten im Interview. gebäudehülle: Herr Serode, was genau sind Textilfassaden, und wieso ist dieses The- ma gerade imHinblick auf die aktuelle Klima- debatte relevant? serode: Textilfassaden sind Fassaden, die vor der thermischenGebäudehülle sitzen. ImRaum zwischendemTextil undder eigentlichenFassa- de befindet sich ein Luftpolster. Das vorgesetz- te Fassadensystemist insbesondere inBezug auf Energieeinsparungen sehr interessant. So findet der erste Kontakt mit der energieintensiven So- larstrahlung außerhalb des Gebäudes statt. Das Bis zu 78 Prozent an Kühllasten im sommerlichen Büro einsparen durch eine textile Gebäudehülle? Das ist gar nicht so schwer, erläutern die Forscher Jan Serode und Dr. Andreas Koch vom Digital Capability Center (DCC) der RWTH Aachen im Interview. Sonnenlicht trifft also zunächst auf die Textil- membran und lässt dort den Großteil der Wär- meenergie frei. Die Luftschicht zwischen dem Textil unddemGebäude bewirkt gleichzeitig ei- nenKonvektionsstrom:WarmeLuftströmt nach oben und sorgt für einen natürlichen Wärme- abtrag, d. h. die thermische Gebäudehülle wird passiv gekühlt. Dieser Effekt ist enorm. In einer Berechnung an einem Verwaltungsgebäude in Berlinwurdebeispielsweise gezeigt, dass einsüd- orientierter Büroraum bis zu 78 Prozent an ex- ternenKühllasteneinsparenkann–alleindurch die vorgesetzte Hülle. ImWinter kehrt sich der Effekt um. Denn dann erzeugt das Luftpolster passiv Wärme. Demnach könnten Textilfassa- den einengroßenBeitrag fürmehrKlimaschutz imGebäudesektor leisten. gebäudehülle: Wie realistisch ist das, und sindTextilfassaden auf alleGebäude anwendbar? serode: Insgesamt eignen sich Textilfassa- den nahezu für alle Gebäudenutzungsarten. Von Industriegebäuden, Bildungsbauten, Bü- rogebäuden, Wohngebäuden, Hotels bis zum Expo-Pavillon 2010 in Shanghai gibt es zahl- reiche Beispiele. Die Leichtbaukonstruktion eignet sich sowohl für Neubauprojekte als auch für Bestandssanierungen. Besonders der Sanierungsbereich wird für uns immer interessanter. Die für das Textil notwendi- ge Unterkonstruktion lässt sich standardmä- ßig einfach installieren. Textilfassaden kön- nen definitiv einen großen Beitrag leisten, um den Klimaschutz imGebäudesektor voranzu- bringen. Dabei werden textile Fassadengewe- be schon seit über dreißig Jahren eingesetzt, auch das Material ist keine neue Konstrukti- on. Leuchtturmprojekte sind jedoch immer noch rar und fangen gerade erst an, Design und Energieeffizienz erfolgreich miteinander zu verknüpfen. In der Architekten- und Bau- herrenberatung müssen wir aber immer noch viele Vorurteile aus dem Weg räumen. Eine unserer Aufgaben besteht darin, darauf auf- merksam zu machen, dass die Technik wei- tergekommen ist. Den meisten Bauherren ist der Gedanke, sich ein Textil vor die Fassade zu hängen, noch sehr fremd. Spätestens wenn sie aber ein Praxisbeispiel in Realität sehen, sind sie oft von der Ästhetik und der hohen Transparenz sehr überrascht. gebäudehülle: Wie ist diese Transparenz möglich? serode: Die meisten Textilien, die wir für die Fassaden verwenden, haben einen Öff- nungsgrad von etwa 28 Prozent. Dieser Öff- nungsgrad ermöglicht, dass Luft und Licht durchgehen. Bei einem Gebäude mit einer Textilfassade ist es am Tag kaum möglich, von außen hineinzuschauen. Aus dem Innen- raum wird das Textil hingegen kaum wahr- genommen, da es sich eben um eine Mikro- struktur handelt. Mit der Umkehr der Licht- situation wandelt sich amAbend das Erschei- nungsbild von Gebäuden. Während tagsüber das Gebäude noch skulptural, monolithisch wirkt, fängt das Gebäude abends an, von in- Der Deutsche Pavillon auf der Expo 2010 in Shanghai erhielt sein markantes Äußeres durch eine transpa- rente, Textilhaut. Das silbern glänzende Gewebe unterstützt die Klimatisierung, spendet Schatten und re- flektiert die Sonneneinstrahlung bis zu 80 Prozent. Foto: © Imaginechina Limited / Alamy Stock Photo

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